Dr. Martin Hoffmann, Universität Münster
Nach dem Tod Immanuel Kants im Jahr 1804 entwickelten sich in der Philosophie mehrere, auseinanderstrebende Richtungen: Auf der einen Seite die spekulativen Systeme des deutschen Idealismus, auf der anderen Seite materialistische Strömungen. Letztere stützten sich in ihrer empiristischen Orientierung auf die großen Erfolge der Naturwissenschaft (insbesondere Charles Darwins Evolutionstheorie), in ihrer politischen Orientierung auf ein neues Geschichtsverständnis und auf Theorien über die Entwicklung der Gesellschaft (z. B. auf den Marxismus). Viele empfanden diese Zersplitterung der Philosophie als krisenhaft. 1865 publizierte der damals 25-jährige Philosoph Otto Liebmann ein Buch mit dem Titel “Kant und die Epigonen”. Darin unterzog er die Philosophie seiner Zeit einer fundamentalen Kritik. Um die philosophischen Probleme zu lösen, stellt Liebmann eine Kernforderung auf, mit der er jedes Kapitel seines Buches beschließt: “Also muss auf Kant zurückgegangen werden.” Damit skizziert Liebmann das Programm des Neukantianismus, einer philosophischen Strömung, die die deutschsprachige Philosophie in der Folgezeit bis in die 1920er Jahre prägen sollte.
Im Vortrag wird zunächst der historische Hintergrund dieser philosophischen Strömung skizziert. Daraufhin werden drei wichtige Grundthemen des Neukantianismus ausführlicher diskutiert. Meine Leitfragen sind dabei: Was sind Werte und welche Arten von Werten gibt es? Welche Rolle spielen die empirischen (Natur-)Wissenschaften für die Welterschließung des Menschen? Und worin besteht die Individualität eines jedes einzelnen Menschen? Im Vortrag werden einige neukantianische Antworten auf diese Leitfragen vorgestellt und auf ihre philosophische Tragfähigkeit hin untersucht.