Hier findest Du die Texte aus dem Programmheft zu unserem Stück “Wunderland”. Das Programmheft steht ebenso als Download zur Verfügung.
„Geschichten machen Geschichte“
Sprecherin, Bild 4
Die bürgerliche Mitte zerrt friedlich Protestierende an den Haaren von der Straße, Springer Journalist*innen kommentieren die Wahl rechtsextremer Politiker mit den Worten „Das beste Angebot gewinnt“ und der stellvertretende Regierungschef von Bayern brüllt von der Bühnenkante, die „schweigende Mehrheit“ müsse sich die Demokratie zurückholen. Der Ruck, der durch Deutschland geht, riecht nach Geschichte. Vor 99 Jahren betrauerte Kurt Tucholsky den Umstand, dass seine demokratische Gesellschaft nicht leisten konnte, was konservative Politiker*innen heute wieder „Indoktrination der Jugend” nennen. Verzweifelnd ob der Allgegenwart des autoritären Nationalismus schrieb er in den Vorabend des letzten tausendjährigen Reiches: „Und wann treten wir an die Menschen heran? Wenn sie reif, erwachsen, ernsthaft, hart und fast unempfänglich geworden sind – wenn sie die alten Kinderlehren fest in Fleisch und Blut haben.“ Um diese Kinderlehren geht es heute auf der Bühne. Um den Impuls, den Geflüchteten vom Boot und die alte Hexe in den Ofen zu schieben, um all die Unmenschlichkeiten, die wir nur allzu gern Mutter Natur ankreiden, weil sie uns seit Kindesbeinen selbstverständlich sind.
Denn heute werden Vernichtungsphantasien wieder laut. „Transgenderismus ausrotten“ wird als Credo auf konservativen Strategiekonferenzen ausgegeben, die (auf)rechte Burger Dorfgemeinschaft jagt couragierte Lehrer*innen aus dem Ort und ein Drittel der Ostdeutschen träumt vom Führer mit harter Hand.
Während die neue Rechte also durch die Institutionen und unsere politische Öffentlichkeit im Eiltempo Richtung 30er Jahre marschiert, fragen wir uns in unserer privilegierten Theaterblase: Was hat das eigentlich mit uns zu tun? Wie ist „der gute Deutsche, der kleine Mann“ dieses Mal in die rechte Ecke geraten, in die Journalist*innen und Volksparteien ihm jetzt eifrig folgen?
Spoiler: Es waren in unseren 20er Jahren so wenig Windräder und Sojaschnitzel, wie es in den letzten 20ern Juden und Volksverräter waren. In die rechte Ecke drängt uns einzig unsere tausendjährige Kultur.
Der Rechtsruck riecht nach Geschichte, denn er ist tief in unseren Erzählungen verwurzelt. Übergriffige Prinzen, böse Stiefmütter und blutige Erlöser begleiten uns seit Jahrhunderten, stiften Gemeinsamkeit und prägen die Werte des Abendlands. Die alten Kinderlehren holen uns ein und führen uns die Hand, wenn wir auf dem Altar der Reintegration autochthoner Rechtsdeutscher das letzte bisschen Menschlichkeit opfern. Die alten Kinderlehren sind der Glutkern, den neue Faschist*innen anfachen, wenn sie Ausgrenzung zu Heldenmut und Genozid zu Selbstverteidigung umdeuten. Hierarchieverherrlichung, Frauenverachtung, der Glaube an heilige Geheimnisse und große Verschwörungen, heroische Männlichkeit und Sozialdarwinismus sind uns allen näher als wir glauben, weil sie das Grundrauschen unserer Erzählungen bilden. Von Star Wars bis Hegel, von Tolkien bis Houellebecq wollen wir uns deshalb gemeinsam auf Entdeckungsreise ins Wunderland konservativer Weltbilder begeben. Wir spüren den großen Narrativen nach, die uns alle verbinden, um den Faschismus da aufzusuchen, wo er herkommt: in den Geschichten, mit denen wir groß geworden sind, in den Geschichten, die wir lieben.
„Gut, jetzt haben wir vor der Geschichte Männchen gemacht und Geschichten erzählt, damit es bestehen kann, das Bestehen vor der Geschichte.“
Kleiner Mann, Bild 2
Statuen und Heldenstolz. Unser Schland hat eine lange Geschichte des Haderns mit dem Hadern mit dem Nationalstolz. Das Menschheitsverbrechen unserer ((Ur-)Groß-)Eltern hat den klassischen Mechanismen konservativer Identitätsnarrative übel mitgespielt. Und seitdem reiben sich Bürgerliche aller Couleur am Sperrgebiet nationaler Größenerzählung wie wuschige Kater an Berliner Betonstelen. Nicht erst Gaulands Vogelschiss und Höckes 180-Grad Wende wollten an der Autorität des „Nie wieder“ rütteln. Von FDP-Wahlplakaten der frühen Republik, die einen „Schlussstrich“ fordern, über den Historikerstreit bis zu Walsers Paulskirchenrede konnte sich das bürgerliche Spektrum nie so recht anfreunden mit der historisch gebotenen Einschränkung der Ahnenverehrung.
Um die übelsten braunen Fettnäpfchen zu umschiffen, musste sich das Bedürfnis der Mehrheitsgesellschaft, auf den Schultern von Riesen zu stehen, aber Ventile abseits von Adolf und Wilhelm suchen. Dichter und Denker, die Aufrechten und die Visionäre sollten den gebrochenen Nationalstolz stützen, damit wir auch abseits des Bolzplatzes wieder wer sein konnten. So haben wir von Jubiläum zu Jubiläum feierlich hinweggesehen über Stauffenbergs chauvinistischen Nationalismus, über Kants Erbe als Mitbegründer der „akademischen“ Rassenlehre und über Luthers unzählige Menschenfeindlichkeiten.
Es mag bizarr erscheinen, dass ein Land, das gerade sechs Millionen Juden industriell vernichtet hat, glühende Antisemiten wie Luther, Kant oder Stauffenberg zu Nationalhelden eines aufgeklärten Humanismus ausrufen konnte, aber Relatability wächst eben nicht auf Bäumen. Gute deutsche Tradition hat gerade jene Heldenfiguren für eine nationale Identitätserzählung brauchbar gemacht. Dem Volk aufs Maul schauen heißt am Ende dem Pöbel vorkauen, was er immer schon kennt. Und natürlich haben die menschenverachtenden Überzeugungen unserer teutonischen Visionäre deren reine Lehren nicht unbefleckt gelassen. Nicht nur die Semantik der Aufklärung strotzt nur so vor maskulinistischer White Supremacy. Auch die Erzählmotive, die unserem Verständnis von (volks-) gesundem Menschenverstand und hellem Licht der Vernunft zugrunde liegen, wurzeln in Ausgrenzung, Abwertung und der unkritischen Verehrung toter Greise. Die Renaissance, die das „dunkle Mittelalter“ überwindet, indem sie sich der Weisheit antiker Großväter zuwendet. Die zivilisierten (binärgeschlechtlichen) Europäer*innen, die den mal mehr, mal weniger „edlen Wilden“ die Zivilisation vermachen. Der Mut, sich des „eigenen Verstandes“ zu bedienen, von dem Coronaleugner*innen und Reichsbürger*innen heute ausgiebig Gebrauch machen. Die Liste der Beispiele ist unerschöpflich. Von Hegels Weltgeist als Reinkarnation religiöser Heilserwartung bis zu Wagners Überwältigungsästhetik schufen die „Nebenausscheidungen“ unserer Geistesheroen überhaupt erst die solide Grundlage für jene Größe und Wiedergeburt der Nation, von der bürgerliche Patriot*innen heute träumen.
„Luft, Licht und Wasser, das stinkt so barbarisch. Die Geldsäcke habens vergiftet, wie die Brunnen, vergiftet mit ihrem Kulturmarxismus. Und tote Fische treiben im Sumpf linker Hegemonie.“
Kleiner Mann, Bild 3
39,4% der Thüringer*innen finden „auch heute noch sei der Einfluss der Juden zu groß“, die Zahl antisemitischer Straftaten in Deutschland hat sich von 2011 bis 2021 fast verdreifacht und das ZEIT-Magazin bringt eine Titelstory über die heldenhafte Holztür von Halle, die dem Attentäter vor der Synagoge Einhalt gebot. Gute deutsche Wertarbeit und Jüd*innen in Todesangst, das sind unsere neuen 20er. Und nein, Günther, unser Antisemitismus ist nicht importiert, unser Antisemitismus ist Kulturgut des Abendlandes. Kulturgut, geprägt vom Marx-Buddy Müller-Tellering, für den alle Bösewichte der Geschichte „bloß Werkzeuge unserer Quäler, der Juden“ waren. Geprägt vom Dominikaner Ludwig Greinemann, der Judas, Herodes und Pontius Pilatus bereits 1778 als zum Mord verschworene Freimaurer imaginierte. Von der Johannesoffenbarung, dank der gute Christen schon lange vom Endsieg träumen. Von Wagner, Marx, Luther, Kant, Rosenberg, Volksmärchen, der spanischen Reconquista und heute von Richter*innen des Bundesgerichtshofs geprägt ist unsere gute abendländische Kultur, wenn sie mit der Waffe vor der Synagoge steht.
Wir leben in Zeiten, in denen „Chemtrails“, „Echsenmenschen“ und „der große Austausch“ unseren Wortschatz bereichern und Verschwörungsmythen blühen, wie die Kornblumen des Hitler-Vorbilds von Schönerer am Revers von AfD-Parlamentarier* innen. Unsere Popkultur ist von James Bond über Dan Browns Bestseller bis zu neuen Star Wars-Serien von Verschwörungserzählungen durchdrungen. Rechte Prominente wie Xavier Naidoo, Eva Herrmann, Michael Wendler, Lisa Fitz und Elon Musk erreichen Millionen mit ihrer antisemitischen Propaganda. Und wir legen Kindern Harry Potter-Bücher mit geldgierigen, krummnasigen Kobolden auf den Nachttisch.
Die alte Erzählung von der geheimen Verschwörung mächtiger Eliten, gegen deren Vorherrschaft es dringend einen autoritären Erlöser braucht, dominiert heute rechte Milieus von Trump bis Putin und reicht tief ins deutsche Bürgertum. Während „Nationalkonservative“ wie Verfassungsschutz- Maaßen und seine Werteunion antisemitische Dog Whistles wie „Globalisten“ und „Great Reset“ verbreiten, ist das Feindbild von den abgehobenen urbanen Eliten längst zum kleinsten gemeinsamen Nenner des konservativen Kulturkampfs geworden. Volksgenossen gegen Kosmopoliten, der kleine Mann gegen die Berliner Blase. Diese Erzählung beschränkt sich nicht mehr auf NPDStammtische. Sie wird von konservativen Politiker*innen in Interviews und auf Wahlkampfbühnen in die Mitte der Gesellschaft getragen.
Ausgangspunkt dieser Renaissance antisemitischer Narrative ist die Verschwörungserzählung vom „Kulturmarxismus“. Der in den 90er Jahren von amerikanischen Paläokonservativen geprägte Verschwörungsmythos behauptet, jüdische Vordenker der Frankfurter Schule um Adorno, Horkheimer und Marcuse hätten sich Anfang des letzten Jahrhunderts mit dem Ziel der „Zerstörung traditionell westlicher Kultur in Deutschland“ zusammengetan. Einmal von den Nazis vertrieben, hätten sie ihre Bemühungen auf die „Zersetzung“ der USA mit Hilfe von „Political Correctness“, sexueller Befreiung und „Multikulturalismus“ konzentriert. Auf diesen kruden Mythos von jüdischer Verschwörung und daraus erwachsener linker Vorherrschaft, die heute angeblich Medien, Universitäten und Öffentlichkeit beherrsche, beziehen sich nicht nur Rechtsterroristen wie Anders Breivik. Sie munitioniert auch den Kulturkampf radikalisierter Konservativer wie Andi Scheuer, Caroline Bosbach, Ulf Poschardt, Sebastian Kurz, Hubert Aiwanger oder Friedrich Merz. Auf Basis dieser Erzählung fördert konservativer Populismus ein Weltbild, in dem es Vielen legitim erscheint, sich „das Land und die Demokratie“ im Zweifel auch mit Gewalt zurückzuholen.
„Nich' lange fackeln, direkt ins Stammhirn, Koks als Schlagzeile, wir brauchen unsre Leute auf Zehenspitzen.“
Julian, Bild 3
Für die Rehabilitierung des großen blonden Deutschen als Bond-Bösewicht hat in den letzten Jahren wohl niemand so viel getan wie Mathias Döpfner. Der leidenschaftliche Vulven-Sammler, Erfinder des deutschen Enkeltricks und ehemalige Präsident der deutschen Verleger*innen- Lobby hat in den letzten Jahren selbst für Bildzeitungsverhältnisse neue Skandal-Maßstäbe gesetzt. Seine geleakten Textnachrichten zeichnen das Bild eines manischen Verschwörungsideologen, der sich in Deutschland in einer linken Diktatur wähnt und mehr Verachtung als für Demokratie nur für seine weiblichen Angestellten und Leser*innen aufbringen kann. Auch seine unternehmerischen Entscheidungen als Springer-CEO, wie die Politico-Übernahme oder der Vorschlag, Elon Musk möge doch bitte Twitter kaufen, unterstreichen seine Ambitionen, die politische Öffentlichkeit westlicher Industrienationen – weit über deutsche Grenzen hinaus – nach rechts zu verschieben. Mit Medienkampagnen, die auf Entmenschlichung des politischen Gegners und Legitimierung von Gewalt zielen, hat Döpfner sein Unternehmen als zentralen Wegbereiter des stochastischen Terrorismus etabliert. In der Followerschaft seiner meinungsstärksten Redakteur* innen finden sich nicht nur fast alle Rechtsterrorist*innen der letzten Jahre, sondern auch das Who is Who des bürgerlichen Spektrums. Für die Vernetzung von radikalisierten Konservativen, neurechten Intellektuellen und gewaltbereiten Neonazis bietet Deutschland aktuell nirgends eine effizientere Plattform.
„Harte Zeiten zeugen starke Männer, also, lasst das Klima ruhig rau werden.“
Leistungselite, die : [lajstʊŋzelitə]
Ein fahnenschwenkender Milchbubi, der sein Imperium auf die Idee gebaut hat, im Internet die Körper seiner Kommilitoninnen zu bewerten und ein Silicon Valley-Guru mit Apartheidshintergrund, der in seiner Freizeit im Internet mit Nazis rumkumpelt. Diese Prachtexemplare der Wettbewerbsgesellschaft wollen ihren Preiskampf um die Krone des Kapitalismus wortwörlich mit dem Lineal in der Unterhose oder mit blanken Fäusten in einem Käfig in Las Vegas austragen. Und als Siegerprämie soll die Kontrolle der politischen Öffentlichkeit des 21. Jahrhunderts herhalten.
Klingt wie ein Fiebertraum aus einem schlechten Science-Fiction-Film aus den 90ern, geht aber auf einen realen Twitter-Schlagabtausch zwischen Mark Zuckerberg und Elon Musk zurück, mit dem sie ihre Kurznachrichtendienste X (Twitter) und Threads bewerben. Was Leistung ist und entsprechend honoriert wird, definieren in unserer Gesellschaft seit jeher toxische Männlichkeitsbilder. Und auch heute belohnen wir kein anderes Verhalten stärker und nachhaltiger als lächerliches „Alpha“- Männchen-Gehabe. Vom Spielplatz bis zum Chefsessel gibt es Eis, Macht und Milliarden für die Würstchen, die „sich durchsetzen“, „abliefern“ und die eigene Herrlichkeit am lautesten beschreien. Boys will be Boys und die Welt soll ihnen dafür Spielplatz und Belohnung sein, ist auch 2023 noch das Ordnungsprinzip westlicher Zivilisation. Von der „Spitze der Nahrungskette“ über den Chef mit Machtmissbrauchs- Faible bis zu traurigen Incel-Boys, die im Keller wüste Drohungen in ihre Tastatur weinen, weil der Feminismus ihre einst so prächtigen Gemächte hat schrumpeln lassen, dominiert das Patriarchat noch immer unsere Öffentlichkeit, weil seine Gewalt unsere Geschichten beherrscht.
„Umwertung aller Werte“
Treffen sich ein frommer Christ, ein Kommunist und ein Popstar in einer Kneipe. Sagt der Barkeeper: „Willkommen zurück in Dresden, Vladimir. Die Freien Sachsen stehen zu Diensten.”
Was stramme Neonazis, die Erben der UdSSR und die restliche Internationale der Nationalist*innen vereint, ist die grenzenlose Umarmung des Postfaktischen. Ihr Ziel: Den grundlegenden Zweifel, den Geburtshelfer der modernen Wissenschaften, so weit radikalisieren, dass Autorität nicht durch Expertise, sondern durch die Performance von Männlichkeit begründet wird. Das ist das Programm, in dessen Dienst russische Oligarchen, amerikanische Evangelikale, europäische Aristokrat*innen und deutsche Neonazis zusammenfinden. Und wenn die Folgen von Neoliberalismus und Klimakrise das alte Versprechen, den Kindern solle es mal besser gehen, lächerlich erscheinen lassen, wenn die Autorität der Alten plötzlich an der Welt gemessen wird, die sie hinterlassen haben, gewinnt die Abwendung von überprüfbaren Fakten auch für den klassischen Konservatismus an Attraktivität. Ob Kurz-ÖVP, US-Republikaner, Forza Italia, PiS in Polen oder die Merz-Union: Das Projekt des radikalisierten Konservatismus ist es, „eine grundsätzlich andere Version der Realität zu erschaffen und möglichst viele Menschen dorthin mitzunehmen“. Wer diese Analyse der brillanten Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl ernst nimmt, kommt nicht umhin zu fragen, ob sich in einer von dieser postfaktischen Alternativrealität geprägten Zukunft wirklich „anständige Konservative“ an den Hebeln der Macht halten werden.